18.11.2021

Über zehn Jahre Palliative Care und Begleitung der Aargauer Landeskirchen
Ganz Mensch, bis zum Tod

Von Carmen Frei

  • Auch in der letzten Phase ihres Daseins wünschen sich die meisten Menschen Lebensqualität. 
  • Wesentlich dazu beitragen kann die Palliative Care. Sie umfasst medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen, psychische, soziale sowie religiös-spirituelle Unterstützung.
  • Die Palliative Care und Begleitung ist ein zentrales Anliegen und seit über zehn Jahren eine Erfolgsgeschichte der Aargauer Landeskirchen. 

Als Folge des Altersüberhangs der hiesigen Gesellschaft wird das Sterben und die es begleitenden Themen in den nächsten Jahrzehnten dominant. «Als Kirche haben wir hier die Themenführerschaft», sagt Catherine Berger. «Nein, ich finde, dass wir diese eben nicht mehr haben», entgegnet Martin Rotzler. Es steckt Emotionalität in der Sache. Das zeigten die Voten der ökumenischen Gesprächsrunde. Karin Tschanz: «Zentral ist, dass wir nicht missionieren, sondern für alle da sind – unabhängig von Religion, Konfession und Weltanschauung – dass wir bedürfnisorientiert arbeiten und unsere Aufgabe mit Respekt und Professionalität angehen.»

Hans Niggeli: «Als Kirche können wir unseren Teil einbringen. Gerade was Rituale rund ums Sterben und den Abschied angeht. Das Individuelle hat meines Erachtens nicht die gleiche Kraft wie die Jahrhunderte alten Traditionen.» Catherine Berger: «Als Kirche wirken wir jedoch nur glaubwürdig, wenn wir in einer Sprache reden, die verstanden wird und etwas aussagt, das die Menschen weiterbringt im Denken, Handeln und Glauben. Es muss aus alter Tradition Neues entstehen.» Martin Rotzler: «In diesem Sinne würde ich Palliative Care und Begleitung als Erfolgsgeschichte beschreiben, die heutige Kirche sichtbar macht am Puls der Menschen. Das soll so bleiben.»

Jubiläumsfeier

Am Donnerstag, 25. November 2021, wird im Kultur- und Kongresshaus Aarau das Jubiläum «10 Jahre (plus 1) Palliative Care und Begleitung» begangen: Mit Zertifikatsfeier und dem Vortrag von Rolf Verres, Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Musiker und Fotograf. Weitere Informationen zum Anlass, zu den Ausbildungslehrgängen oder zur Geschichte von Palliative Care und Begleitung der Aargauer Landeskirchen gibt es auf www.palliative-begleitung.ch

Rückblende

Bereits 1995 wird von der eidgenössischen Kommission «Neuer Altersbericht» festgehalten: «Die spirituelle Begleitung schafft und fördert ein Vertrauen, das die Wirkung der medizinischen und pflegerischen Anstrengungen zu einem dem Wesen des Menschen entsprechenden Ganzen ergänzt.» Dieser Ansatz motivierte auch Pfarrerin Karin Tschanz. «Meiner Ansicht nach können wir dann von einem guten Sterben sprechen, wenn Menschen gemäss ihren Wünschen begleitet werden, nicht leiden müssen und getröstet, gesegnet und ohne Angst sterben können.»

Karin Tschanz verantwortete 2004 als Geschäftsleitungsmitglied und Bereichsleitung Seelsorge der Reformierten Landeskirche Aargau das Projekt Seelsorgeentwicklung. Aus einer entsprechenden Umfrage resultierte unter anderem der Wunsch nach einer Gesprächssynode zum Thema. Diese fand 2009 unter dem Titel «Ganz Mensch bis zum Tod» statt. Sie brachte klar zum Ausdruck, dass die Präsenz von Kirche bei Menschen am Lebensende ein grosses Anliegen sein muss. Darum erteilte die Synode der Landeskirche den Auftrag, eine Ausbildung für Freiwillige in Palliative Care und Begleitung zu konzipieren und einen Begleitdienst aufzubauen, der die Gemeinde- und Spezialpfarrer/innen unterstützen soll. 

Triebfeder im Aargau

Karin Tschanz setzte diesen Auftrag als gut vernetzte Kennerin der Materie um. Sie entwickelte zertifizierte Lehrgänge in Palliative und Spiritual Care gemäss den Richtlinien der Fachgesellschaft palliative.ch für freiwillige Begleitpersonen und Fachpersonen der Pflege, Seelsorge, Psychologie und Sozialarbeit. Die promovierte Theologin baute den kantonalen Palliative-Care-Begleitdienst auf, organisierte Fachtagungen und Themenabende, betrieb Öffentlichkeitsarbeit und beantragte eine Koordinationsstelle mit Sekretariat. «Diese Pionierarbeit wurde nicht zuletzt durch die Unterstützung der damaligen Kirchenratspräsidentin Claudia Bandixen ermöglicht», erinnert sich Karin Tschanz – die nicht nur Ausbildungsleiterin in Palliative und Spiritual Care der Aargauer Landeskirchen ist, sondern auch Vorstandsmitglied bei palliative.ch. 

Palliative Care und Begleitung in Zahlen

Seit 2010 bieten die Aargauer Landeskirchen mit Palliative Care und Begleitung qualifizierte Information und Beratung über Palliative Care und Sterbebegleitung an für Betroffene, ihre Angehörigen, Fachpersonen sowie die Bevölkerung. Insbesondere begleiten sie Kranke und Sterbende durch Seelsorgende und qualifizierte Freiwillige, wozu sie Freiwillige und Fachpersonen in Palliative Care und Sterbebegleitung ausbilden.

1135 

Personen wurden von den Aargauer Landeskirchen ausgebildet. Davon sind 608 Fachpersonen aus Pflege, Seelsorge, Therapie, Ärzteschaft und 527 Freiwillige.

14 

Regionalgruppen, 1 Kantonalgruppe und eine ausserkantonale Gruppe in Olten bilden den Palliative Care Begleitdienst.

66’853 

Stunden Begleitdienst leisteten Freiwillige bei Schwerkranken und Sterbenden zwischen 2011 und 2021. Das entspricht der Arbeit von vier Vollzeitstellen.

4
Personen koordinieren zusammen mit drei Stellvertreterinnen die Einsatzzentrale.

Mittlerweile eine Topadresse

«Anfänglich war die Zusammenarbeit erschwert, weil wir keinen konkreten Auftrag hatten», erklärt Hans Niggeli, Fachstellenleiter Spezialseelsorge der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau, seinerseits die Ausgangslage. «Es gab zwar die ökumenisch geführten Sterbebegleitungskurse am Kantonsspital Baden unter dem Titel ‘Dasein bis zuletzt’. Doch es brauchte einfach seine Zeit, bis sich schliesslich alles gut zusammenfügte.»

Seit dem 1. Januar 2016 tragen alle drei Aargauer Landeskirchen Palliative Care und Begleitung mit. Die verschiedenen Kooperationen – etwa mit der Ausbildungsstätte Careum, mit palliative aargau, SRK, Spitex, Hausärzten und Hausärztinnen, Spitälern und Alters- und Pflegezentren im Kanton – festigten Palliative Care und Begleitung weit über das kirchliche Umfeld hinaus. «Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie ein biblischer Auftrag in eine zeitgemässe Form gebracht werden kann», betont Catherine Berger, zuständige Kirchenrätin der Reformierten Kirche Aargau. «Solcherlei kirchliches Engagement wird auch von der Gesellschaft als richtig und gut wahrgenommen.» Catherine Bergers Pendant im Römisch-Katholischen Kirchenrat, Martin Rotzler, ergänzt: «Folgerichtig konnten sich die Aargauer Landeskirchen auf politischer Ebene einbringen und wurden als Partner eingeladen, zur kantonalen Palliative-Care-Strategie Stellung zu nehmen.» Karin Tschanz: «Diese intensive Beziehungspflege nach allen Seiten war und ist massgebend. Mittlerweile sind wir im Zusammenhang mit Palliative Care eine Topadresse.» Hans Niggeli: «Ebenfalls spürbar ist, dass durch diese herausragende Stellung die Seelsorge im Gesundheitswesen einen ganz anderen Stellenwert bekommen hat.»

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