13.05.2024

Ein Forschungsprojekt widmet sich dem bisher unveröffentlichten Nachlass von Silja Walter
11'000 Seiten voller Überraschungen

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Vor wenigen Jahren kam im Kloster Einsiedeln überraschend ein bedeutender Teil von Silja Walters persönlichem Nachlass zum Vorschein.
  • Nun widmet sich ein Projekt der Theologischen Fakultät der Uni Luzern und des Klosters Fahr der Erforschung dieser Texte. Das Forschungsprojekt wird unter anderem ermöglichen, die Texte von Silja Walter ursprungsnäher zu interpretieren und sie im Zusammenhang zu verstehen.
  • Vergangene Woche erfolgte im Kloster Fahr der offizielle Start zum vierjährigen Forschungsprojekt «Silja Walter – eine Benediktinerin und ihr Weckruf in die Kirche und in die Gesellschaft».

Im Vierjahreszeitenraum des Klosters Fahr hat sich zur Medienorientierung eine illustre Runde versammelt: Rund um Priorin Irene Gassmann haben Professor Markus Ries, Projektleiterin Esther Vorburger, der Einsiedler Abt Urban Federer und Pater Martin Werlen von der Propstei St. Gerold Platz genommen. Reihum ergreifen sie das Wort und öffnen so den Fächer von Silja Walters reichem Schaffen und ihrer Wirkung auf Kirche und Gesellschaft.

«Jemand muss zuhause sein»

Priorin Irene stellt an den Anfang eine Strophe des Gedichts «Gebet des Klosters am Rand der Stadt» von Silja Walter: «Jemand muss zuhause sein, Herr, wenn du kommst. Jemand muss dich erwarten, unten am Fluss vor der Stadt. Jemand muss nach dir Ausschau halten, Tag und Nacht. Wer weiss denn, wann du kommst?» Warten, Ungewissheit aushalten, wach sein, um etwas Wichtiges nicht zu verpassen: Was im Gedicht als Gebet an Gott gerichtet ist, fasst treffend auch die Ereignisse rund um den Nachlass von Silja Walter zusammen.

Martin Werlen, ehemaliger Abt des Klosters Einsiedeln und heute Propst in St. Gerold in Vorarlberg, war 20 Jahre lang der geistliche Begleiter von Silja Walter. «Silja Walter war der Grund dafür, dass ich selbst zu schreiben begonnen habe», sagt er. | Foto: Roger Wehrli

Es gab Gerüchte

Martin Werlen, ehemaliger Abt des Klosters Einsiedeln und heute Propst in St. Gerold in Vorarlberg, war 20 Jahre lang der geistliche Begleiter von Silja Walter. Er erinnert sich, dass sie ihn während seiner Zeit als Abt einmal fragte, ob er irgendwo die Briefe gesehen hätte, die sie in den 1960er-Jahren an Abt Raymund Tschudi geschrieben habe. Die Briefe an den Abt habe Silja Walter jeweils dem Beichtvater aus Einsiedeln mitgegeben, wenn dieser im Kloster Fahr zu Besuch war. Auf diese Weise habe sie die Texte an ihrer «Mutter Oberin», ihrer damaligen Priorin, «vorbeigeschmuggelt», erklärte Pater Martin Werlen. Zu seiner Zeit als Abt habe sich jedoch im Kloster Einsiedeln keine Spur dieser Briefe finden lassen. «Gerüchte über diese Briefe gab es, doch gewusst hat niemand etwas», erinnert sich auch Priorin Irene.

Silja Walter – Benediktinerin und Schriftstellerin

Silja (Cécile) Walter lebte von 1948 bis zu ihrem Tod im Jahr 2011 als Benediktinerschwester Maria Hedwig im Kloster Fahr. Sie wurde 1919 im solothurnischen Rickenbach geboren und wuchs als zweitälteste Tochter der Nationalrats- und Verlegerfamilie Walter auf. Ihr kunstaffines Elternhaus prägte sie. Silja Walter absolvierte das Lehrerseminar in Menzingen und begann in Fribourg ein Literaturstudium. Silja Walter war im Blauring aktiv und als junge Erwachsene in der Bundesleitung von Jungwacht Blauring tätig.

Im Jahr 1948 trat Silja Walter ins Kloster Fahr ein. Für die welterfahrene junge Frau war das Klosterleben eine Herausforderung, die sie auch in ihren Texten verarbeitete. Mit ihrer Lyrik, ihren liturgischen Texten, den Liederdichtungen und Mysterienspielen wurde sie eine wichtige Stimme für die katholische Kirche in der Schweiz. Sie erreichte aber einen grossen Kreis von Leserinnen und Lesern über ihren kirchlichen Kreis hinaus im ganzen deutschsprachigen Raum. Für ihr Schaffen wurde Silja Walter mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, die Gemeinde Würenlos verlieh ihr 2003 das Ehrenbürgerrecht. Ihre Werke erschienen von 1999 bis 2005 in einer elf Bände umfassenden Gesamtausgabe im Paulus-Verlag. Ein grosser Teil der Manuskripte zu ihren Arbeiten befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Im Kloster Fahr machen der «Silja Walter-Raum» und der «Silja Walter-Weg» ihr Leben und Werk gegenwärtig.

Das Projekt «Silja Walter – eine Benediktinerin und ihr Weckruf in die Kirche und in die Gesellschaft» läuft bis 2028. Zwischenergebnisse werden voraussichtlich im Jahr 2026 veröffentlicht. Weitere Informationen gibt es auf der Webseite der Universität Luzern.

Priorin Irene stieg in den Estrich

Vor ein paar Jahren aber, als Priorin Irene im Kloster Einsiedeln zu Besuch war, fragte ein Mitbruder sie: «Weisst du eigentlich, dass bei uns im Estrich ein Harass steht mit Texten eurer Mitschwester Silja Walter?» Priorin Irene erzählt: «Noch am gleichen Nachmittag bin ich in den Estrich gestiegen. Als der Bruder mir die Kiste zeigt, traute ich meinen Augen kaum. Ich habe sofort dafür gesorgt, dass die Kiste mit dem nächsten Auto ins Kloster Fahr gebracht wird.»

Zum Nachlass gehören 25 dicht beschriebene Bände mit religiösen Tagebüchern und weiteren Akten. Enthalten sind insbesondere Briefe von Silja Walter an den damaligen Abt von Einsiedeln, Raymund Tschudi. | Foto: Roger Wehrli

Im Kloster Fahr ruhte die Kiste eine Weile. Abt Urban, Priorin Irene und Pater Martin Werlen waren sich einig, dass die Texte aufgearbeitet werden sollen. «Ich wusste, irgendwann wird sich etwas ergeben», sagt Priorin Irene. Sie wartete ab, darauf vertrauend, dass sie den richtigen Moment erkennen würde.

Ein grosser Schatz

Dieser Moment war gekommen, als Esther Vorburger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Universität Luzern, das Kloster Fahr besuchte. Vorburger hatte mehrere Arbeiten zu religiösen Frauengemeinschaften verfasst und war auf der Suche nach Beispielen für die persönliche Frömmigkeit und das geistige Leben von Ordensschwestern. Da zeigte Priorin Irene ihr die Schachtel mit den Texten von Silja Walter.

Eine erste Prüfung bestätigte, was die Priorin bei der Entdeckung bereits vermutet hatte: Die Kiste enthält einen grossen Schatz. Er besteht aus zahlreichen Entwürfen, Skizzen und einem umfangreichen Briefwechsel. Enthalten sind 25 religiöse Tagebücher und gebündelte Seiten mit Gedanken und Entwürfen. Dazu kommt der erwähnte Briefwechsel mit dem Abt Raymund Tschudi sowie mit weiteren Persönlichkeiten.

Professor Markus Ries: «Silja Walter war eine ermutigende Stimme im Aargauer Kulturleben und wurde breit rezipiert.» | Foto: Roger Wehrli

Zeitzeugin und Akteurin

Verfasst hat Silja Walter die gefundenen Texte in den Jahren 1962 bis 1967, der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965). Die Nonne interessierte sich für die Geschehnisse am Konzil in Rom, an dem Abt Raymund Tschudi teilnahm. Die am Konzil verabschiedeten Texte griff sie auf und verband sie mit der Regel des heiligen Benedikt zu neuen, eigenen Texten. Martin Werlen sagt: «Sie war auf der Baustelle Kirche zusammen mit Mitschwestern kreativ unterwegs.»

In der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils befand sich die katholische Kirche in einem grossen Aufbruch. Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Uni Luzern, bezeichnet Silja Walter sowohl als Zeitzeugin als auch als Akteurin für den Umbruch in Kirche und Gesellschaft: «Sie war eine exponierte Zeugin dieser Veränderungen. Ihre Einflüsse sind in den jetzt zugänglichen Aktenbeständen sehr schön greifbar und nachvollziehbar.» Ries ist überzeugt: «Die historische Arbeit mit den Akten von Silja Walter wird uns eine Innensicht erschliessen und Prozesse verständlich machen, welche bis anhin nur mit Hilfe offizieller Dokumente möglich war.» Indem die Benediktinerin ihre Stimme erhob, hat sie auch die jahrhundertelange Beziehung zwischen den Doppelklöstern Einsiedeln und Fahr reflektiert und beeinflusst.

Ergebnisoffen

Das Projekt zur Erschliessung von Silja Walters Nachlass ist auf vier Jahre, von 2024 bis 2028, angelegt. Zuerst werden die teils hand-, teils maschinengeschriebenen Texte transkribiert, also abgeschrieben. Neben einer qualitativen Inhaltsanalyse wird Vorburger auch die Beziehung zwischen Silja Walters Werk und ihrem Nachlass analysieren. Dabei kommt unter anderen die Forschungsmethode der «oral history» zum Einsatz: Zeitzeuginnen werden mündlich interviewt. Danach werden die Ergebnisse dargestellt und publiziert. «Die Forschungsarbeit ist ergebnisoffen», betont Vorburger.

Am 23. April 1919 wurde Silja Walter geboren. Am 31. Januar 2011 verstarb sie als Schwester Maria Hedwig Walter im Kloster Fahr. Während ihrer Zeit im Benediktinerkloster im Fahr schuf sie unzählige poetische Texte. Im 100. Geburtsjahr der Dichterin feierte das Kloster Fahr seine langjährige Mitschwester. | © Kloster Fahr/zVg

Silja Walter inspiriert auch heute

Alle am Projekt Beteiligten sind Silja Walter und ihrem Werk eng verbunden. Abt Urban Federer formuliert treffend: «Silja Walter schrieb in einer Zeit, die nicht heute ist, aber in einer Sprache, die noch heute verstanden wird.» Pater Martin Werlen ist nach einem ersten Einblick in den Nachlass begeistert von den Texten, die typisch seien für Silja Walter: «Sie bringt darin so vieles zusammen: aktuelle Entwicklungen, ihre Gotteserfahrung und die Benediktsregel.» Esther Vorburger freut sich auf die Arbeit am Projekt: «Die Werke von Silja Walter haben ihren Ursprung in diesen Notizen. Das Projekt wird auf jeden Fall Informationen liefern zum Leben im Frauenkloster vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Es kann aber durchaus auch Unerwartetes in den Texten stecken.» Priorin Irene, die sich umsichtig dafür einsetzt, dass man Silja Walter und ihrem Werk im Kloster Fahr heute noch begegnen kann, sagt schlicht: «Ich bin stolz auf unsere Mitschwester Maria Hedwig, Silja Walter.»

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