16.05.2024

Kantonaler ökumenischer Pfingstgottesdienst für Menschen mit und ohne Behinderung in Stein
Sprühende Pfingstfunken

Von Eva Meienberg

  • Sechs Menschen mit Behinderung helfen der Seelsorgerin Isabelle Deschler, den Pfingstgottesdienst in Stein vorzubereiten.
  • Gemeinsam lassen sie das Pfingstfeuer lodern, damit der Funke an Pfingsten auf alle Besuchenden überspringt.

Alfons Freivogel kommt mit Josef Keller an die Probe. Dieser hält seinem Freund die Lifttür so lange auf, bis er mit seinem Rollator die Schwelle des Lifts passiert hat – das geht eine Weile, aber Josef Keller hat es nicht pressant. Sechs Bewohnende aus der Stiftung MBF in Stein haben sich gemeldet, um gemeinsam mit Isabelle Deschler den kantonalen ökumenischen Pfingstgottesdienst für Menschen mit und ohne Behinderung vorzubereiten. Auch Natascha Wunderlin, Philippe Meyer und Roland John sind dabei. Thomas Seri, der Sechste im Bunde, fehlt heute.

Ein Bild von Gott

Für die Aufwärmrunde liegen viele Bilder auf zwei grossen Tischen im Proberaum bereit. Alle dürfen sich eines auswählen, das zu ihrem Gottesbild passt. Natascha Wunderlin nimmt sich drei Bilder. Auf dem einen hat es eine Kuhherde mit Hirten. Auf dem zweiten einen Telefonhörer und auf dem dritten einen Sanitätskoffer. «Gott hört zu, Gott hilft und schaut zu den Tieren.» ­Natascha Wunderlin muss sich anstrengen, um die Sätze zu formulieren. Manchmal sind es nur einzelne Wörter, die sie sagen kann, aber sie gibt nicht auf, will sich mitteilen und alle hören ihr geduldig zu. Philippe Meyer hat sich ein Bild ausgewählt, auf dem eine steinerne Brüstung mit einer Öffnung in Herzform abgebildet ist. Ganz leise sagt er: «Liebe.» Alfons Freivogel nimmt sich zielstrebig ein Bild einer Ikone. «So sieht Jesus aus», kommentiert er seine Wahl. Josef Keller wählt ein Bild mit einer Konstruktion, durch die hindurch ein Maibaum zu sehen ist. Roland John hat sich das Bild einer Figur mit ausgebreiteten Armen ausgewählt. «Der Herrgott erschafft und segnet», sagt der grossgewachsene Mann, der sich bei allen immer wieder bedankt. «Danke, danke vielmal, danke und auf Wiedersehen», dann wird er ruhiger und ist bereit für die Übungen, die Isabelle Deschler für die Gottesdienstgruppe vorbereitet hat.

Isabelle Deschler, Fachmitarbeiterin «Pastoral bei Menschen mit Behinderung» leitet die Vorbereitungen für den Pfingstgottesdienst. | Foto: Manuela Matt Isabelle

Spirituelle Bedürfnisse

Seit über zehn Jahren ist Isabelle Deschler bei der Vorbereitung der Pfingstgottesdienste dabei. Sie ist Fachmitarbeiterin «Pastoral bei Menschen mit Behinderung» bei der Römisch-Katholischen Kirche im Kanton Aargau, berät Seelsorgeteams und arbeitet auch selbst in der Seelsorge für Menschen mit Behinderung. «Erfahrungsgemäss bekommen Menschen mit Behinderung weniger Angebote, ihre spirituellen Bedürfnisse auszuleben, als Menschen ohne Behinderung», sagt die Theologin. Aber wie alle anderen hätten auch sie unterschiedliche spirituelle Bedürfnisse. «Es gibt Menschen mit Behinderung, die gerne in einem Kirchencafé mithelfen würden. Andere, die einen Pilgerweg unter die Füsse nehmen oder, wie diese Gruppe, einen Gottesdienst mitgestalten möchten.»

Kantonaler ökumenischer Pfingstgottesdienst
für Menschen mit und ohne Behinderung

Der Pfingstgottesdienst ist zu Gast in der katholischen Pfarrkirche an der Schul­strasse 5 in Stein. Er findet am Sonntag, 19. Mai 2024, um 11.00 Uhr statt.
Gestaltung: Isabelle Deschler, Fachstelle ­«Pastoral bei Menschen mit Behinderung», reformierte Kirche mittleres Fricktal, katholische Kirche Eiken-Stein, Frauen und Männer der Stiftung MBF
Musik: Kinderchor Eiken – Stein und der Kirchenchor Stein unter der Leitung von Simone Küpfer.
Nach dem Gottesdienst gibt es einen Apéro riche.

Heiliger Geist spielen

Die Probe im etwas beengten Gruppenraum geht weiter. Alle sollen sich vorstellen, wie es ist, von einem Faden nach oben gezogen zu werden. Dann sollen sie stark und stolz herum­gehen. Dann schwach, zittrig und wacklig auf den Beinen sein. Natascha Wunderlin schlenkert mit den Armen und muss lachen. Die Stimmung ist gelöst und heiter. Aber jetzt geht’s zur Sache, denn die Gruppe soll darstellen, wie der Heilige Geist vom Himmel zu den Aposteln kommt und alle in verschiedenen Sprachen sprechen lässt. «Buongiorno, Salut, Shalom, Bonjour», rufen die Darstellerinnen und Darsteller ins imaginäre Publikum. Nach einer Stunde gibt es eine Pause mit Kaffee und Gipfeli. Alfons Freivogel spricht viel und schnell, vieles davon ist schwer verständlich. Josef Keller sagt nichts und geniesst seinen Kaffee. Roland John ist vor dem Znüni besorgt, dass es eine Früchteschale und Süssgetränke haben könnte. Isabelle Deschler kennt seine Sorge und hat vor der Pause alle anderen Esswaren und Getränke weggeräumt. «Die Luft ist rein», ruft sie Roland John zu. Ob er das Gipfeli jetzt essen soll oder später, fragt er die Seelsorgerin. Sie rät ihm, auf sich selbst zu hören. «Wenn das so ist, will ich das Gipfeli behalten, damit ich mich länger freuen kann.» Als der übrige Znüni aufgegessen oder verteilt ist, ist auch Roland John bereit, die Probe weiterzuführen.

Die Gruppe übt, mit Chiffontüchern das Pfingstfeuer darzustellen | Foto: Manuela Matt

Der Feuer-Kreistanz

Ein Gottesdienst hat einen Spannungsbogen, erklärt Isabelle Deschler. Die Menschen müssten abgeholt und ins Thema eingeführt werden und schliesslich müsse das Thema verkostet werden. Ohne Verkostung gingen die Menschen leer nach Hause. Eine Verkostung beschreibt sie als eine persönliche Erfahrung, einen Moment, in dem man Gott begegne. Die Verkostung im geplanten Pfingstgottesdienst ist der Feuer-Kreistanz. Der Moment, in dem die Darstellenden spielen, wie das Pfingstfeuer die Apostel ergreift und sie in die Welt hinausziehen, um in allen Sprachen die Frohe Botschaft zu verkünden: «Jesus lebt.» Philippe Meyer packt für die Szene das orange transparente Tuch. Er hält es in den Händen, betrachtet es aufmerksam und riecht am Stoff. «Orange», sagt er leise und gedehnt und hält das Tuch, als wäre es kostbarste Seide. Alle stehen nun eng im Kreis und bewegen die Tücher sanft hin und her, ein kleines Feuer glimmt. Dann werden die Bewegungen ausladender. Das Feuer beginnt zu lodern. «Feuer, flammendes Feuer», singt Isabelle Deschler und erinnert die Gruppe daran, dass im Gottesdienst an dieser Stelle die Chöre singen werden. Nun binden sich alle das Feuertuch um, denn jetzt brauchen sie die Hände, um die kleinen Bambusschalen zum imaginären Publikum zu tragen und die unsichtbaren Brötchen zu verteilen.

Natascha Wunderlin versteckt sich hinter einem blauen Chiffontuch. Foto: Manuela Matt

Segen für alle

Am Schluss der Probe überlegen sich alle anhand des ausgewählten Bildes einen Segensspruch. «Jesus lebt», sagt Philippe Meyer leise, aber mit Nachdruck, und dann ist er es, der plötzlich kichern muss. «Gott schaut zu euch», sagt Roland John schnell. «Gott steht zu mir», sagt Alfons Freivogel mehr zu sich selbst und Natascha Wunderlin konzentriert sich eine Weile, dann platzt es aus ihr heraus: «Zu den Haustieren schauen.» Die Tiere sind ihr sehr wichtig. Josef Keller schliesst die Runde. «Die Welt ist schön», sagt er und formt mit seinen Armen einen grossen Kreis. Auch wenn bis Pfingsten nur noch zwei Proben angesagt sind und immer wieder was vergessen geht, weiss Isabelle Deschler, dass es gut kommt mit dem Gottesdienst. «Ich habe immer wieder erlebt, wie die Teilnehmenden im Gottesdienst über sich selbst hinausgewachsen sind», sagt die Seelsorgerin. Zum Abschied verschenkt Roland John gesegnete Medaillen mit dem Bild der Muttergottes. «Vergiss nicht, regelmässig zu Maria zu beten», mahnt er und macht sich auf den Weg zum Mittagessen.

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