04.07.2024

Neun Monate nach der Veröffentlichung der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch
«Die Vermischung von Recht und Moral hat sich als verheerend herausgestellt»

Von Sandra Leis/kath.ch

  • Er ist der härteste interne Kritiker der römisch-katholischen Kirche.
  • Und glaubt trotzdem an ihre Veränderbarkeit.
  • Im Podcast «Laut + Leis» sagt Stefan Loppacher, wo die Kirche steht.

Am 27. Mai begrüsste Stefan Loppacher die Journalistinnen und Journalisten zum sogenannten «Werkstattgespräch». Thema: Zwischenbericht zur Umsetzung der Massnahmen gegen Missbrauch und Vertuschung. Nur einen Tag später reichte er seine Kündigung als Präventionsbeauftragter des Bistums Chur ein. Doch anders als seine Kollegin Karin Iten bleibt er der Kirche und der Präventionsarbeit treu: Loppacher wird ab 1. Juli die neue nationale Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext» leiten.

Bischof Bonnemain dämpft Erwartungen

Ein Forscherteam der Universität Zürich hat vergangenen September die Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch veröffentlicht: Dokumentiert sind über 1000 Übergriffe seit dem Jahr 1950 sowie systematisches Vertuschen durch die Verantwortlichen. Am selben Tag haben die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Römisch-Katholische Zentralkonferenz (RKZ) und die Vereinigung der Ordensgemeinschaften Massnahmen angekündigt. Neun Monate später, am 27. Mai, haben die drei Organisationen über den Stand der Dinge informiert. Gleich zu Beginn dämpfte Bischof Joseph Maria Bonnemain, der Ressortverantwortliche Missbrauch, die Erwartungen: «Wir kommen nicht so rasch voran, wie es nötig und gewünscht wäre.»

Anlaufstellen ab Januar 2025

Im Podcast-Gespräch mit kath.ch zeigt sich Stefan Loppacher zuversichtlich bezüglich Anlaufstellen: «Im Fokus steht die unabhängige Beratung der Missbrauchsbetroffenen. Wir führen Gespräche mit den kantonalen Opferberatungsstellen und möchten ihnen mit unserem kirchlichen Knowhow zur Verfügung stehen.» Ihr Ziel sei es, dass die Zusammenarbeit zwischen Opferberatungsstellen und Kirche ab Januar 2025 funktioniere und mit einer Fallpauschale entschädigt werde. Ganz anders sieht es beim angekündigten nationalen Kirchengericht aus. Jedes Bistum hat ein eigenes Gericht, und der Bischof ist der oberste Richter. Der alte Strafgedanke in der Kirche sei stets derselbe gewesen: Strafe müsse sein, um die Leute zur Umkehr zu bewegen, sagt der promovierte Kirchenrechtler Loppacher. «Diese Vermischung von Recht und Moral hat sich als verheerend herausgestellt im Umgang mit schweren Sexualverbrechen. Weil da eine saubere Trennung zwischen dem persönlichen Umkehrweg, den der Täter für sich gehen kann, und dem Unrecht, das er begangen hat, nicht stattfindet.»Deshalb seien gewisse Vorbehalte dem Kirchengericht gegenüber durchaus berechtigt. Gleichwohl brauche es ein Kirchengericht, weil nur dieses entscheiden könne, welche weiteren Auflagen beispielsweise ein fehlbarer Priester bekommt, der von der Justiz mit einer Geldstrafe bedacht wird. Wann und wo das nationale Kirchengericht, das auch den Segen aus Rom benötigt, dereinst stehen wird, dazu wagt Loppacher keine Prognose.

Baustelle Personaldossiers

Eine weitere zentrale Massnahme sind einheitliche Standards für das Führen von Personaldossiers. Die Standards sollen bis Ende Jahr in einem Handbuch festgehalten sein, und dann beginne ein längerfristiger Organisationsentwicklungsprozess. «Es ist nicht nur ein technisches Problem, wie man ein Personaldossier professionell führt. Es geht auch darum, wie man heikle Personalgespräche führt und wie Informationen weitergeleitet werden.»

Die grösste Knacknuss

Egal, um welche Massnahme es sich handelt, die Knacknuss ist immer dieselbe: Die Kirche möchte und muss schweizweit verbindliche Standards einführen. Dem gegenüber steht die Autonomie der Bistümer, Landeskirchen und Orden. Stefan Loppacher: «Schweizweite Veränderungen brauchen enorm viel Überzeugungskraft und die Unterstützung von unten. Wir leben in einem Land und einer Kirche, in der Gemeindeautonomie als eines der höchsten Güter angesehen wird. Das ist toll. Doch in der Krise wird diese Autonomie zum Problem», so Loppacher.

Veränderung ist möglich

Dass Veränderung trotzdem möglich ist, davon ist Stefan Loppacher überzeugt. «Ich glaube, dass jede einzelne Massnahme, jede Schulung in der Präventionsarbeit einen Effekt hat. Auch wenn nicht alle jeden Tag voll mitmachen.» Aber wenn das die Mehrheit tue, dann sei die Kirche bereits eine andere.

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