20.06.2024

Einsiedeln spielt seit 100 Jahren Welttheater. Dieses Jahr nach der Fassung von Lukas Bärfuss
Ein Spiel auf Messers Schneide

Von Eva Meienberg

  • Das Einsiedler Welttheater feiert mit dem Stück von Lukas Bärfuss sein hundertjähriges Jubiläum.
  • Die barocke Vorlage des Theaters ist heute kaum mehr verständlich.
  • Kunsthistorikerin, Detta Kälin, hat sich mit der Welt von Calderón de la Barca vertraut gemacht und erklärt, warum man damals dachte, dass die totgeborenen Kinder nicht in den Himmel kommen.

Beim ersten Probenbesuch des Einsiedler Welttheaters zeigt sich, dass das Spiel auf Messers Schneide steht. Da poltert ein älterer Mann mit seinem holzigen Gehstock aufgebracht die Treppe hinunter. «No show today! C’est annulé! Cancellato!», ruft die Figur genervt ins imaginäre Publikum. Das ist der Autor, eine göttliche Schöpferfigur. Verständlich, dass er aufgebracht ist. Denn gemäss der barocken Vorlage von Don Pedro Calderón de la Barca, an der sich auch Lukas Bärfuss in seiner Fassung orientiert hat, will der Autor das Spiel allein zu seinem Vergnügen veranstalten. Dazu erschafft er sich eine Welt und lässt die Figuren – den König, den Reichen, die Schönheit, die Weisheit, den Bauern und den Bettler – auftreten. Der Bettler wird dabei zum Prüfstein für die anderen Figuren. Er erinnert sie in seinem Elend an die christliche Nächstenliebe. Doch nicht alle haben Mitleid. In der Stunde ihres Todes werden die Figuren vom Schöpfer gerichtet. Wer die christliche Nächstenliebe gelebt hat, bekommt ein ewiges Leben im Paradies. Wer versagt hat und keine Reue zeigt, kommt in die Hölle. Wer wollte dem Autor die schlechte Laune verübeln, wenn ihm dieses Spektakel in der aktuellen Inszenierung zu entgehen droht?


Das Einsiedler Welttheater

Das Einsiedler Welttheater wird seit 1924 auf dem Klosterplatz aufgeführt. Gespielt wurde nach dem Text des Barockdichters Don Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) in der Übersetzung von Joseph von Eichendorff. ­Calderón wollte mit seinem Theater die Menschen von der katholischen Lehre überzeugen, die durch die Reformation in Bedrängnis geraten war. Damals wurde der Einakter an Fronleichnam aufgeführt. Das Motto des Theaterstücks war: Welche Rolle du auch immer auf Erden spielen musst, lebe nach den christlichen Geboten, dann wirst du nach deinem Tod im Paradies ein ewiges Leben bekommen. Die Figuren des Stücks waren der König, der Reiche, die Schönheit, die Weisheit, der Bauer und der Arme und bildeten die gottgegebene soziale Ordnung der Zeit ab. Für die Inszenierung im Jahr 2000 schrieb Thomas Hürlimann zum ersten Mal eine zeitgenössische Fassung. Das aktuelle Stück basiert auf dem Text von Lukas Bärfuss. Inszeniert wird es von Livio Andreina. Das Stück wird vom 11. Juni bis 17. September aufgeführt.

Die Kinder wollen spielen

Nun hat die zwölfjährige Luana Thoma ihren Auftritt. Sie spielt neben Valentina Marty das Mädchen Emanuela. Ihr Freund ist Pablo – gespielt von Samuel Engeler und Flavio Lang. Gemeinsam zotteln die beiden auf die Bühne. Die Kinder haben von der Absage gehört und wollen vom Autor wissen, warum er das Spiel abblasen will. Es stellt sich heraus, dass die Hauptrollen keine Lust zum Spielen haben. Zu anstrengend, zu ungerecht, zu unmenschlich sei dieses Welttheater. Das lassen die Kinder nicht gelten. Emanuela und Pablo fordern trotzig ihr Spiel und der Autor lässt sich erweichen. «Willst du das wirklich?», fragt der Autor Emanuela. Das Mädchen schliesst die Augen, hält inne und sagt laut und deutlich: «Ich wott, ich wott, ich wott.» Der kindliche Zauber ist gesprochen. Der Platz vor dem Kloster wird zur Weltbühne. Die Kinder Emanuela und Pablo machen in der Fassung von Lukas Bärfuss das Spiel erst möglich. Im Gegensatz dazu, durfte in der barocken Vorlage das Kind nicht am Spiel mitmachen. Denn es war ein ungeborenes Kind, gestorben im Mutterleib. Gemäss den damaligen Vorstellungen war dieses Kind zwar ohne Sünde, aber mit der Erbschuld belastet. Da es tot auf die Welt kam, konnte es nicht getauft werden. Das Paradies blieb ihm verschlossen und es kam in die Vorhölle, den Limbus. Diese aus menschlicher Sicht unvorstellbare Ungerechtigkeit habe Calderón als Exempel für den unbedingten Glauben an Gott gedient, sagt Detta Kälin, die 2013 für das Museum Fram in Einsiedeln eine Ausstellung zum Welttheater von Calderón kuratiert hat. Die Menschen sollten glauben, auch wenn sie die komplexen theologischen Wahrheiten nicht verstehen konnten.

Unverständliche barocke Welt

Seit der ersten Inszenierung des Einsiedler Welttheaters im Jahr 1924 hat sich nicht nur das Verhältnis zur Figur des ungeborenen Kindes verändert. Immer weniger versteht das Publikum die Welt des spanischen Barockdichters und dennoch wurde bis in die 1990er Jahre an dieser Textvorlage festgehalten. Warum soll die Welt eine Bühne sein? Was soll das Leben mit einem Spiel zu tun haben? Die Vorstellung des «Theatrum mundi» – der Welt als Theater – gibt es seit der römischen Antike und sie erlebte im Zeitalter des Barocks eine Wiederaufnahme. Damals sei die Vorstellung der «Vanitas» wichtig gewesen, sagt Detta Kälin. Damit sind die Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Lebens im Kontext eines jenseitigen Lebens gemeint. Und dazu passt die Vorstellung, das irdische Leben sei ein kurzer Auftritt auf einer Bühne. Just in dieser Zeit seien die barocken Kirchtürme mit Uhren ver­sehen worden, als wollten sie die Menschen daran erinnern: Nutze die Zeit auf Erden, sie ist nicht von langer Dauer. Die sinnliche Welt hätten die Menschen als trügerisch aufgefasst, sagt Detta Kälin. Auch dazu passe die Vorstellung der Welt als Theater, in der sich hinter Kulissen, Kostümen und Masken etwas anderes, das Eigentliche verberge. Sich nicht blenden lassen, sondern auf das Wesentliche – das ewige Leben – konzentriert bleiben sei die Lebensaufgabe gläubiger Katholikinnen und Katholiken gewesen.

Seine Rolle finden

Noch fehlen an dieser Probe die Requisiten und Kostüme. Aber Luana ist ganz in der Rolle der Emanuela. «Ich finde es cool, dass ich im Theater verschiedene Menschen sein kann», sagt die Zwölfjährige. Bereits als Kleinkind habe sie Theater gespielt, Menschen mit ihren verschiedenen Dialekten imitiert. Mit der Figur der Emanuela habe sie nicht so viele Gemeinsamkeiten, ausser der Durchsetzungsfähigkeit. Das hat Luana beim Rollenstudium gemerkt. Sie sei nicht so mutig wie Emanuela. Aber immer öfter komme ihr die Figur im Alltag in den Sinn und sie stelle fest, dass sie einfacher auf Menschen zugehen könne als früher. «Wie Kinder durch das Spiel ihre Identität finden, gelangen auch die Figuren im calderónschen Spiel zu ihrer Identität», sagt Detta Kälin. Die Figuren könnten sich ihre Rollen nicht aussuchen, aber dennoch seien sie keine Marionetten des Schöpfers. Die Figuren – wie die Menschen – hätten ihren freien Willen. Auch damit folge Calderón der katholischen Lehre.

Aufstand der Elenden

Zweiter Probenbesuch. Bis zur Premiere sind es nur noch 20 Tage. Über den Arkaden thronen jetzt Gerüste, auf denen die Figuren der Hundertjährigen sitzen, die sich am Anfang des Stücks geweigert haben zu spielen. Turmartige Gerüstbauten stehen links und rechts der Treppe, aus Löchern im Boden ragen Plastikrohre, ein grosser Schacht wurde mitten auf dem Platz ausgehoben. Heute wird der Beginn des zweiten Akts geprobt. Emanuela ist jetzt eine junge Frau, gespielt von Lilli Borsos. Sie hat sich in der Rolle der jungen Königin versucht und muss diese Rolle nun schon wieder abgeben. Dann übernimmt Rita Noser, die Emanuela als reife Frau in der Rolle der Armen spielt. Soziale Gerechtigkeit habe zu Calderóns Zeiten bedeutet, dass alle Menschen die gleichen Chancen auf das ewige Leben gehabt hätten, sagt Detta Kälin. Die Welt war, wie sie sein musste. Die soziale Ordnung war gottgegeben. Es ging im calderónschen ­Theater also darum, die eigene Rolle zu akzeptieren und nach den religiösen Regeln zu spielen.

Die Welt in neuem Licht

Nun betreten die Elenden die Bühne. Darunter auch die Figur der Claudette, die wie schon ihr Vater und Grossvater einen Pflock im Kopf hat, ohne zu wissen, warum und ohne je den Versuch unternommen zu haben, ihn zu entfernen. Emanuela hadert mit ihrem Schicksal und plant die Revolution gegen den Autor, dem sie die Schuld an ihrer Misere und an der Ungerechtigkeit der ganzen Welt gibt. Sie animiert Claudette, endlich den Pflock aus ihrem Kopf zu ziehen. Gesagt, getan. Aus Claudettes Pflock wird eine Fackel. Die Welt erscheint in einem neuen Licht und dem Autor geht es an den Kragen. Es scheint, dass die Hauptrollen am Anfang recht gehabt haben. Das Leben auf der Weltbühne vor dem Kloster ist auch in der Fassung von Lukas Bärfuss kein Kinderspiel. Soziale Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod prägen auch das Leben von Emanuela und Pablo. In der calderónschen Fassung konnten sich die Figuren mit dem ewigen Leben trösten. Doch was blüht den Figuren von Bärfuss? Was werden sie am Ende sagen? Hat sich das Spiel gelohnt, das sie sich vom Autor ertrotzt haben?

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